Wir erfahren die rasant fortschreitende Digitalisierung täglich in all unseren Lebensbereichen. Dabei fokussieren wir uns weltweit sehr stark auf die positiven Effekte wie Innovation, neue Geschäftsmöglichkeiten oder neue Ökosysteme.
Was aber Digitalisierung neben der eigentlichen technischen Transformation in Form von Datensammeln und Schaffung von verschiedenen Analysemethoden viel grundlegender bedeutet und wie sich unsere Gesellschaft durch die Digitalisierung in Veränderung befindet, wird viel zu wenig beachtet.
Diese Thematik war einer der Diskussionsschwerpunkte im Rahmen des „International Digital Security Forums (IDSF) Vienna“ (www.idsf.io), welches mit einer starken internationalen Beteiligung von 31. Mai bis 2. Juni 2022 in Wien stattfand.
Die wichtigsten Positionen und Aspekte der Vorträge und Diskussionen zu einem radikal neu zu denkenden Internet sind im folgenden Newsletter zusammengefasst.
Michael Latzer, Professor of Media Change and Innovation am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich, zeigt in der Zusammenfassung seiner IDSF-Keynote „Digitale Dreifaltigkeit – Datafizierung, Algorithmisierung, Plattformisierung“ eindrucksvoll auf, dass die mit der Digitalisierung verbundene gesellschaftliche Veränderung nicht nur ein technologischer, sondern auch ein fundamentaler soziotechnischer Transformationsprozess mit weitreichenden Konsequenzen für unser gesellschaftliches Zusammenleben ist.
Er versteht die neue Prägung der sozialen Ordnung als eine religionsähnliche gesellschaftliche Funktion, die durch das ko-evolutionäre Zusammenspiel der Datafizierung aller Lebensbereiche, der Algorithmisierung von Auswahlprozessen und der Plattformisierung von Märkten entstanden ist.
Astrid Mager von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beschreibt in ihrem Artikel „David gegen Goliath? Wie europäische Suchmaschinen digitale Zukünfte neu denken und gestalten“ die grundlegenden Wirkmechanismen von Suchmaschinen und die dadurch entstehenden Effekte der Beeinflussung von Internet-Usern.
Astrid Mager postuliert, dass man Suchmaschinen als gesellschaftliche Basis-Infrastruktur begreifen muss, über die heute der Zugang zu Wissen und Information bereitgestellt wird.
Sie fasst in ihrem Artikel das Thema ihrer laufenden Habilitationsschrift – Algorithmische Imaginationen – zusammen und gibt Einblick in die Erkundung von drei alternativen europäischen Suchmaschinen-Projekten, deren breitere Umsetzung bei entsprechendem politischem Willen geeignet wäre, vielfältige, unabhängige Medienmärkte und faire Internet-Technologie im öffentlichen Interesse als Gegenpole zur Macht globaler Monopolakteure hervorzubringen.
Dominika Hajdu, Head of Center for Democracy & Resilience am slowakischen Think Tank GLOBSEC in Bratislava, erörtert in ihrem Beitrag „Digital democracies: What’s next?“ die Bedrohung der Grundmechanismen demokratischer Prozesse in unseren Gesellschaften.
Beeinflussung von Massen, Aufhetzung oder rassistische Ausgrenzung von Minderheiten in den Sozialen Medien stellen uns alle vor neue Herausforderungen und verlangen unbedingt eine qualitative breite Diskussion, um die Balance zwischen der so wichtigen grundlegenden freien Meinungsäußerung und gesellschaftlichen Spielregeln im Umgang mit Technik und Medien zu gewährleisten.
Soziale Medien wirken wie Informationsmedien und brauchen somit auch gesellschaftliche Spielregeln wie Ethik-Boards und Regulierungen. Vor allem die aktuellen Möglichkeiten der organisierten Meinungsmache von einzelnen Staaten, um Massen zu steuern, stellen ein enormes Problem für die multi-pluralen Gesellschaften auf unserem digitalen vernetzten Planeten dar.
Schließlich erörtert Francesca Musiani vom Center for Internet and Society (CIS) am CNRS (Centre Nationale de la Recherche Scientifique) in Paris in ihrem Beitrag „Can digital sovereignty be infrastructured?“ die Notwendigkeit, die Machtverteilung der Internet-Stakeholder neu zu ordnen, um die so wichtige digitale Souveränität für uns alle nachhaltig sicherzustellen.
Die immer mehr um sich greifende Überwachung von uns allen als Benutzer digitaler Dienste und Anwendungen und der potenzielle Missbrauch durch einige wenige globale Monopolanbieter verlangen ein neues Rollenverständnis von Staaten bezüglich der Autorität im Internet als gesellschaftlich grundlegender wichtiger Infrastruktur als auch betreffend den notwendigen Schutz der Bürger:innen in einem digitalen Universum.
Digitale Souveränität meint dabei aber nicht nur rechtliche Konzepte und regulatorische Regeln, sondern verlangt ein neues Verständnis für das Wechselspiel zwischen digitaler und physischer Welt und deren Abhängigkeiten voneinander, was bisher in allen großen Diskursen ignoriert wurde.
Für den vorliegenden Newsletter konnten wir herausragende Denker:innen, die bei unserer Zweitauflage des ISDF Vienna aufgetreten sind, als Autor:innen gewinnen und somit unserer Leserschaft neue, wissenschaftliche Einsichten zum Internet der Zukunft vermitteln: ein Internet als wünschenswerter, digitaler Lebensraum.
Die Konferenz hat wieder einmal klar gezeigt: Wir brauchen immer wieder neue Ansätze und Visionen, um der Komplexität der digitalen Welt künftig wirklich gerecht werden zu können.
Viel Spaß beim Lesen dieses spannenden Social Media Newsletters als Anregung zur Gestaltung eines neuen Internets – ein „Internet, radikal neu gedacht“ eben!